Emil Cimiotti

Dr. Ulrike Lorenz
Emil Cimiotti: Plastik als Autobiografie

Emil Cimiotti, 85 Jahre alt, hat zeitlebens aus der Substanz der eigenen Persönlichkeit geschöpft und so in knapp sechs Jahrzehnten einen beeindruk- kend homogenen Werkkomplex geschaffen. Hineingeworfen in die zerklüftete Epoche, mitgerissen vom Aufbruch der Kunst, setzte der Bildhauer aus Göttingen in der deutschen Nachkriegsmoderne Numero II einen Anfang. Im direkten physischen Handeln mit seinem plastischen Material errang er die Freiheit, sich einen originären Weg in das europäische Informel zu erfinden. Seitdem treibt Cimiotti eigensinnig seine Spur voran, ungeachtet der in rascher Folge auftauchenden und untergehenden Epigonen, unbeeindruckt von neuen Avantgarden oder gar zeitgeistigen Trends, ungerührt auch gegenüber der Globalisierung und Mediatisierung des Kunstsystems. Informel war und ist für ihn Haltung und Prinzip, kein Stil. Auf die Frage nach dem Neuen in seiner Kunst, schrieb der Bildhauer 1983: »Wenn die Arbeit tief in der eigenen Person verankert ... und ein Stück Autobiografie geworden ist, dann machen die alten Themen immer neue Wandlungen durch, verlangen immer erneut nach anderen Lösungen, weil man selbst ein Anderer wurde.« Im ureigenen künstlerischen Tun stets ein Anderer zu werden und damit niemals aufzuhören – das muss als das Lebens- und Wirkmotto des Plastikers bis heute gelten.



ohne Titel, 2006
Bronze, gußrauh
auf Stahlplatte montiert
16 x 34 x 15 cm

Beta, 2006
Bronze, gußrauh
auf Stahlplatte montiert
28 x 45 x 15 cm

Volare, 2011
Bronze, gußrauh
auf Stahlplatte montiert
77 x 41 x 30 cm

Emil Cimiotti
Meine Werkskizzen

Meine Skizzen, das sind: Notizen, handspannengroße Zeichnungen von räumlichen Vorstellungen, Ideen zu Plastiken oder zu plastischen Details, Aufzeichnungen alles dessen, was mir zu meiner plastischen Arbeit durch den Kopf geht.

Immerfort entstehen diese Notizen. Wenn ich lese, in zu langen Sitzungen, auf der Bahnfahrt, beim nächtlichen Erwachen.

Auf Zetteln von schlechtem Papier sind sie mit dem Kugelschreiber flüchtig umrissen; daneben stehen Stichworte, sprachliche Hinweise, damit ich mich erinnere: So war es gemeint.

Solche Werkskizzen entstehen in großer Zahl. In Stößen liegen sie im Atelier zwischen den Werkzeugen, sind mir immer vor Augen, werden ergänzt, solange ich noch im Kopf an der neuen Plastik arbeite.

Sie sind der Sauerteig zu meiner Arbeit, mein Ideenreservoir. Sobald ich mit der Ausführung der Plastik beginne, sobald das Objekt vor mir auf dem Arbeitstisch Konturen zeigt, sobald es in die Realität hineinwächst und für den weiteren Vollzug seine Alternativen eröffnet, sehe ich die Blätter nicht mehr an. Ich brauche sie nicht mehr.

Der Prozess des Arbeitens geht nun seine eigenen Wege, die ursprüng - lichen Vorstellungen, die den Anstoß für den Beginn der Arbeit gaben, verblassen – ein Blick auf die Skizzen würde stören.

Ich vergesse die Blätter, sie gehen in den Materialabfällen unter. Sie vergilben, verstauben und verdrecken. Wenige Blätter ziehe ich heraus und bewahre sie oder schenke sie Freunden: Wenn die plastische Arbeit beginnt, sind die Skizzen für mich abgetan.

Die neuen Blätter, seit dem Ende der 80er-Jahre, sind lapidarer geworden und farbiger, wie auch die gleichzeitig entstandenen räumlichen Objekte. Oft mit breitem Pinsel geschrieben, begleiten sie, fast wie verkürzende Kommentare, meine plastische Arbeit. Richtungspfeile, Wegmarken.

Werkskizzen, 2012
Mischtechnik auf Papier
teilweise collagiert
23 x 29,7 cm

Werkskizzen, 2012
Mischtechnik auf Papier
teilweise collagiert
23 x 29,7 cm

Großformatige Zeichnungen


Saat, 2011
Mischtechnik
70 x 100 cm

Barranco, 2011
Kreide laviert, Papierrelief
70 x 100 cm

Alpha, 2011
Kreide laviert, Papierrelief
70 x 100 cm

ohne Titel, 2011
Mischtechnik
70 x 100 cm

Biografie

1927 - 1945
Emil Cimiotti wird am 19. August 1927 in Göttingen geboren. Der Vater ist Arbeiter, die Familie lebt in einfachen Verhältnissen. Nach Beendigung der Schulzeit wird er – siebzehnjährig – noch zur Wehrmacht eingezogen und erlebt die letzten Kriegs - monate als Soldat.

1946 - 1948
Nach der Rückkehr aus englischer Kriegsgefangenschaft folgt eine Lehre als Steinmetz, es entstehen erste plastische Versuche.

1949
Völlig mittellos beginnt Cimiotti sein Studium an der Kunstakademie in Stuttgart bei Otto Baum. Seinen Lebensunterhalt erwirbt er sich durch Nebenjobs. Im ersten Semester modelliert er einige gegenständliche Plastiken und erhält daraufhin das Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes.

1950
Infolge der Isolierung Nazideutschlands war dem Heranwachsenden die Kunstentwicklung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unbekannt geblieben. Jetzt erscheinen sporadisch die ersten Publikationen. Welten tun sich auf. Cimiotti erlebt diese Erweiterung seines Blickfelds wie eine Offenbarung. Rasch wandelt sich seine Arbeit und nimmt experimentellen Charakter an, bewusste Formstudien setzen ein. Willi Baumeister, der an der Stuttgarter Akademie Malerei lehrt, besucht ihn gelegentlich in seinem Arbeitsraum in der Hochschule und fordert und fördert ihn durch sein Interesse. Er spricht nie über Plastik, doch seine Äußerungen über Malerei sind so elementar, dass Vieles davon auf die räumliche Arbeit übertragbar ist.

1951
In der ersten Publikation über abstrakte Kunst, einer Sonderausgabe der Zeitschrift Das Kunstwerk, wird Cimiotti erstmals neben Willi Baumeister, Ernst Wilhelm Nay, Georg Meistermann und anderen genannt. Eine seiner Studien wird abgebildet. Er geht an die Hochschule für Bildende Künste nach Berlin zu Karl Hartung, der ihn allerdings nach zwei Monaten energisch aus seiner Klasse weist. Hans Uhlmann und Carl Hofer intervenieren, damit der Künstler sein Stipendium behalten kann. Cimiotti geht nun für ein Semester nach Paris, für Deutsche so kurz nach dem Krieg nicht ganz einfach. Er geht zu Ossip Zadkine an die École de la Grande Chaumière, nutzt aber die Zeit weniger zur praktischen Arbeit als zu Besuchen im Louvre und im Musée d’Art Moderne. Er besucht Constantin Brancusi im legendären Atelier in der Impasse Ronsin, Le Corbusier in seinem Maleratelier in Neuilly sowie Fernand Léger, der seinen Unterricht in der Nähe des Montmartre erteilt.

1952/53
Rückkehr an die Kunstakademie Stuttgart und Fortsetzung der Formstudien. Freunde in der Baumeister-Klasse sind Peter Brüning, Fritz Seitz und Eduard Micus. Cimiotti zählt zum Kreis um den Philosophen Max Bense. Zum intensiven Austausch kommt es mit dem schon greisen Bildhauer Alfred Lörcher.

1954
Heirat mit Brigitte Hörz. Cimiotti beendet sein Akademiestudium, seine plastischen Versuche sind zu räumlichen Strukturen geworden.

1955
Die erste Wachsplastik wird in Bronze gegossen, viele vorangegangene Studien vernichtet der Künstler.

1956
Neue Figurationen entstehen, es kommt zu ersten Ausstellungsbeteiligungen. Heftige Angriffe und Verrisse durch die Kunstkritik folgen, da die neuen Arbeiten eine ungewohnte Auffassung von Bildhauerei zeigen. monate als Soldat.

1957
Cimiotti erhält den Kunstpreis »junger westen 57« für Bildhauerei, der durch die Stadt Recklinghausen und die Künstlergruppe »junger westen« vergeben wird – damals der erste und einzige Preis für progressive avantgardistische Kunst mit entsprechendem Echo. Dieselben Arbeiten, die eben noch von der Kritik verrissen wurden, werden nun begeistert gefeiert, nachdem Albert Schulze Vellinghausen und John Anthony Thwaites sehr positiv darüber berichtet haben. Es folgen erste Einzelausstellungen und Ankäufe. Cimiotti ist von nun an wirtschaftlich unabhängig.

1958
Es entstehen die für dieses Jahr typischen Figurengruppen. Cimiotti ist mit einer Werkgruppe im Italienischen Pavillon der 29. Biennale in Venedig vertreten. Seine Arbeiten gelten nun als ein wesentlicher Beitrag zum europäischen Informel.

1959
Cimiotti erhält den Kunstpreis »junger westen 59«, diesmal für Handzeichnung, den Preis der »Gesellschaft für junge Kunst« in Baden-Baden und das Stipendium der Villa Massimo. Er verbringt – intensiv arbeitend – den größten Teil des Jahres in Rom. Hier entstehen zwölf Plastiken, die erstmals landschaftliche Bezüge aufweisen. Eduard Trier beschreibt diesen Ansatz als eine neue Kategorie innerhalb der Bildhauerei. Teilnahme an der Documenta II, der 2. Biennale junger Kunst im Musée d’Art Moderne in Paris sowie der Wanderausstellung European Art Today in den USA.

1960
Die in Rom entstandenen Arbeiten werden im Kölner Kunstverein ausgestellt. Nahezu alle Stücke werden von Museen erworben. Auf der 30. Biennale in Venedig werden Cimiottis Plastiken im Deutschen Pavillon neben Baumeister, Julius Bissier und Karl Schmidt-Rottluff gezeigt.

1961/62
Gustav Stein, großer Förderer junger Kunst, regt Cimiotti an, eine Plastik für sein Anwesen zu schaffen. Er schlägt das Thema »Daphne« vor, welches Cimiotti auf den Leib geschneidert zu sein scheint und von ihm ganz neu interpretiert wird. Die große Plastik bildet einen Höhepunkt in seinem Schaffen. Teilnahme an der 3. Biennale junger Kunst im Musée d’Art Moderne in Paris, Einzelausstellungen bei Otto van de Loo und Dieter Brusberg.

1963 - 1965
Cimiotti erhält mehrere Angebote ein Lehramt zu übernehmen. Er entschließt sich, dem Ruf nach Braunschweig zu folgen, wo eine neue Kunsthochschule unter seiner Mitwirkung gegründet wird. Übersiedlung nach Wolfenbüttel. Teilnahme an der Documenta III mit Plastiken und Handzeichnungen. Eine erste Monografie von Hans Wille erscheint.

1966 - 1970
Im Werk der Informellen wird in diesen Jahren eine gewisse Verunsicherung spürbar. Zwar hatte sich Cimiotti bereits früh von einer direkten Einbindung in das Informel distanziert, dennoch gehört seine Arbeit in dieses Umfeld. Er reagiert, indem er seine Arbeitsweise ändert, und geht zum Sandguss über, der die Kompositionen kompakter werden lässt und Auflagengüsse ermöglicht. Teilnahme an der 19. Biennale Internazionale d’Arte Premio del Fiorino in Florenz, der Ausstellung Plastieken in het landschap in Keukenhof-Lisse und an der Weltausstellung in Osaka / Japan. Es entstehen größere Freiplastiken für die Universitäten Göttingen und Konstanz, vorher schon für die Universität Kiel.

1971 - 1974
Cimiotti kehrt zu seiner alten Technik des direkten Arbeitens in Wachs zurück. Unter den vegetativen Motiven werden Hinweise auf die Vergänglichkeit erkennbar, so z. B. in den Werken Romeo und Julia und Santa Maria della Concezione.

1975 - 1980
Es entstehen neue Plastiken, die einen scheinbaren Realismus ahnen lassen. In der Hauptsache sind es Stillleben, letztlich Vanitas-Motive. Cimiotti setzt erstmals für manche Details bei seinen Plastiken Farbe ein, es entstehen auch farbige Zeichnungen (Rignana-Folge). Er erhält größere öffentliche Aufträge, z. B. für den Ständehausbrunnen in Hannover, den Eberhard Roters einen »gewaltigen, breitlagernden Strukturteppich, einen Dschungel aus Waben und Hohlräumen« nennt. In der Kunsthalle Mannheim findet eine umfassende Retrospektive statt. Die Nationalgalerie Berlin erwirbt die frühe Plastik Der Wald und ein Konvolut Zeichnungen.

1981 - 1988
Ein schwerer Unglücksfall in der Familie erlaubt für zwei bis drei Jahre kaum plastische Arbeit, Cimiotti zeichnet in dieser Zeit sehr viel. Ab Mitte 1984 Wiedereinstieg in die plastische Arbeit, es entstehen figurative Objekte, die fragmentarische Züge aufweisen, z. B. Stauffenberg-Projekt, Figur (für Meister Gislebertus). Retrospektiven im Museum am Dom, Lübeck, und im Kunstverein Braunschweig. 1984 erhält Cimiotti den Niedersachsenpreis für Kultur.

1989 - 1992
Es sind die letzten Jahre der Lehrtätigkeit an der Braunschweiger Hochschule. Im neuen Atelier in Hedwigsburg entstehen großformatige Plastiken, einige werden bemalt. Mit den Bergmotiven bildet sich eine neue Facette im Werk heraus, die Jahre sind äußerst produktiv. Retrospektiven in der Dominikanerkirche in Osnabrück und in der Kunsthalle Recklinghausen. Eine zweite, von Eberhard Roters verfasste Monografie erscheint. Die Figur (für Meister Gislebertus) wird durch die Stadt Braunschweig für den Dom zu Braunschweig erworben.

1993 - 1999
Cimiotti nähert sich nun wieder auf ganz andere Weise früheren landschaftlichen Themen, die Farbe als Gestaltungsmittel tritt zurück. Teilnahme an der Ausstellung Europäische Plastik des Informel im Lehmbruck Museum in Duisburg. Wahl zum Mitglied der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg. Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden erwerben die frühe Plastik Daphne, die einst im Besitz von Gustav Stein gewesen war.

2000 - 2005
Cimiotti arbeitet noch immer täglich in seinem Atelier in Hedwigsburg. Er erhält mehrere Ehrungen und Auszeichnungen, viele Einzelausstellungen finden statt. Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden erwerben die Plastik Ich denke an Alice aus dem Jahre 1975.

2006 - 2013
Weiterhin tägliche Arbeit im Atelier und verstärkte Ausstellungstätigkeit. 2006 erhält Cimiotti den Ernst-Rietschel-Kunstpreis für Bildhauerei. Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden erwerben für das Albertinum das Bodenrelief "Große Düne" und die farbig gefassten Plastiken Sierra Nevada und Vulcano. Zusammen mit den vorher schon angekauften Arbeiten befindet sich damit ein gewichtiger Teil von Cimiottis Oeuvre in der Skulpturensammlung des Albertinum. 2010–2012 entstehen ganze Gruppen neuer Kompositionen, die auf Stahlträger montiert sind. Das Dommuseum Hildesheim erwirbt die Plastik "Strukturen – vernetzt", die nach Beendigung der Renovierungsarbeiten am Hildesheimer Dom im Eingangsbereich aufgestellt wird. 2012/13 greift Cimiotti in einigen Arbeiten frühe Themen aus seinen Anfängen erneut auf, die in Format und Detail zu gänzlich neuen Ergebnissen führen.

Arbeiten von Emil Cimiotti befinden sich in vielen namhaften Sammlungen und Museen im In- und Ausland.